„Das erklärt so vieles…!“ - spät diagnostizierte Neurodiversität
Anthony Hopkins hat seine Diagnose erst im hohen Lebensalter erhalten - und er ist kein Einzelfall: ein bislang nicht diagnostizierter
Asperger-Autismus (wie es im ICD-10 Katalog immer noch heißt, durch die allmähliche Übernahme des ICD 11 Kataloges wird aber bald nur noch von der „Autismus-Spektrum-Störung“, abgekürzt ASS, die
Rede sein) bleibt in seinen leichteren Ausprägungen oft bis ins höhere Erwachsenenalter unentdeckt und zeigt sich lediglich in nahen Beziehungen, die irgendwie einfach nicht richtig „rund“ laufen
und am Ende oft scheitern, unter großer Verzweiflung aller Beteiligten.
Autisten sind meist normal bis überdurchschnittlich intelligent, beruflich oft sehr erfolgreich, häufig in technischen und etwas „nerdigen“ Berufen tätig – und ihr „Anderssein“ zeigt sich oft nur
in sozialen Kontakten und engen Beziehungen, in denen sich immer wieder Schwierigkeiten zeigen bezüglich Kommunikation und Einfühlungsvermögen. Und genau hier kommt es oft zur folgenschweren
Verwechslung mit einem Narzissten: ein Narzisst kann sich sogar ausgezeichnet in sein Gegenüber einfühlen – und nutzt dies zur Manipulation, um seine Belange durchzusetzen.
Ein Autist dagegen kann sich oft weniger gut in sein Gegenüber einfühlen; Achtung, das bedeutet NICHT, dass Autisten keine Gefühle hätten, wie es so oft in den Laienkreisen (und leider auch bei
manchen Ärzten mit veraltetem Wissensstand) herumgegeistert! Ganz im Gegenteil fühlen sie oft ausgesprochen intensiv! Sie können lediglich Körpersprache, Mimik und Andeutungen weniger gut intuitiv erfassen, und das Verhalten ihres Gegenübers ist für sie deshalb
oft genauso ein Rätsel wie umgekehrt ihre Reaktionen für ihre Mitmenschen.
Manipulation liegt einem Autisten darum auch fern, weil ihm das ganze Konzept und auch der Sinn von Manipulation wenig bekannt ist – ebenso wenig merkt er es meist, wenn sein Gegenüber versucht,
ihn zu manipulieren. Dies ist vermutlich der größte Unterschied zu einem Narzissten: ein Autist kann sich nur schwer verstellen, will dies auch gar nicht, noch nicht einmal dann, wenn es höflich
oder angebracht wäre, dies zu tun. Er ist meist sehr authentisch, auch um den Preis, andere vor den Kopf zu stoßen. Führt dies dann – natürlich – zu Problemen in engen Beziehungen, steht er oft
ratlos davor und versteht die Welt nicht mehr. Die Reaktionen seiner Mitmenschen auf sein So-Sein sind ihm immer wieder ein Rätsel – und da er nicht nachvollziehen kann, dass andere Menschen in
der gleichen Situation auch anders hätten handeln können, was ihm eben nicht möglich ist, kann er dies selbst dann nicht verstehen wenn man es ihm sagt – derartige Wahlmöglichkeiten kommen in
seiner Welt einfach nicht vor, und so kommt es immer wieder zu Mißverständnissen und Schwierigkeiten in engen Beziehungen, und frustrierter Verzweiflung auf beiden Seiten.
Autismus ist keine psychische Erkrankung, ist nicht anerzogen, sondern eine genetisch bedingte angeborene neurologische Besonderheit, deren Ursache noch nicht wirklich ausreichend erforscht und
die auch nicht behebbar ist. Sicher scheint zu sein, dass sie vererbbar ist: bei näherem Hinsehen finden sich in der Familie sehr oft weitere Fälle von Neurodiversität, die von den Angehörigen
bisher als „exzentrisch“, „schrullig“, „kompliziert“, „empfindlich“, „schwierig“ oder vielleicht sogar „narzißtisch“ verkannt worden sind.
Eine Beziehung zwischen einem „neurodivergenten“ und einem „neurotypischen“ Menschen wird wohl immer herausfordernd bleiben – wichtig und der erste Schritt zu einer Besserung der oft von
gegenseitigen Mißverständnissen geprägten Beziehung zu den Mitmenschen und des oft geringen Selbstwertgefühls der Betroffenen ist aber zunächst einmal die Erkenntnis, dass es sich um Autismus
handeln könnte.