Hilfe!! Depression
Soforthilfe bis zum Start einer
Psychotherapie
Dr. med. Barbara Gorißen
Impressum:
Dr. med. Barbara Gorißen
Wilhelm-von-Erlanger-Straße 22a
55218 Ingelheim
www.Praxis-Dr-Gorissen.de
barbara.gorissen@proton.me
Copyright: Dr. Barbara Gorißen 2024; Alle Rechte vorbehalten
Herstellung durch Amazon Distribution GmbH
ISBN: 9798876708403
Imprint: Independently published
Autorin: Gesetzliche Berufsbezeichnung Ärztin.
Berufsbezeichnung verliehen in der Bundesrepublik Deutschland. Es besteht die Facharztbezeichnung Innere Medizin, nach Weiterbildung und Prüfung verliehen von der Landesärztekammer Hessen. Die Zusatzbezeichnungen fachbezogene Psychotherapie, Palliativmedizin und Notfallmedizin wurden ebenfalls von der Landesärztekammer Hessen verliehen.
Zuständige Ärztekammer/Aufsichtsbehörde:
Bezirksärztekammer Rheinhessen
Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die schon einmal durch das tiefe Tal der Depression geschritten sind
Inhaltsverzeichnis
Der Druck muss raus!
Die Pflichten runterfahren!
Die Stimmungsskala
Kein Schadensbericht ohne Unfallskizze
Die Liste der angenehmen Momente
Haben Sie Ihren Akku tiefenentladen?
Halten Sie Ihren Tagesakku in Balance
To-do-Listen? Ok, aber bitte richtig
Wie reden Sie eigentlich mit sich?
WILL ich das? Will ICH das? Will ich DAS?
Sie sind doch meistens gar nicht gemeint
Gerade auch bei Freunden gilt: Find your tribe
Wie bitte? Beim Autofahren meditieren?
Seine eigenen Bedürfnisse kennen und achten
Der Vergleich mit anderen
Nachwort
Wichtige Vorbemerkung
Bei einer waschechten Depression ist jedes Buch nur eine Krücke. Und eine Krücke ersetzt natürlich auch keine Behandlung, wenn Sie Ihr Bein gebrochen haben. Sie kann Ihnen aber durchaus von Nutzen sein.
Sie könnte Ihnen sogar helfen, sich zu Hause halbwegs zu bewegen, ohne sich das gebrochene Bein dadurch noch stärker zu verletzen — wenn Sie aufgrund völliger Überlastung des Chirurgen erst mal nur auf der Warteliste stehen. Utopisch? In der Chirurgie tatsächlich (noch?) nicht denkbar, in der Psychotherapie leider Alltag. Allerdings gibt es auch bei psychischen Erkrankungen selbstverständlich jederzeit professionelle Soforthilfe für Notfälle, dazu aber gleich mehr.
Lassen Sie uns erst nochmal kurz zur Krückenmetapher zurückkommen. Eine Krücke ist also nur ein unterstützendes Hilfsmittel, nicht die eigentliche Behandlung, jedenfalls dann nicht, wenn Sie sich das Bein tatsächlich gebrochen haben.
Wenn Sie sich das Bein dagegen nur gezerrt haben, und es zum Glück doch nicht gebrochen ist, dann kann eine Krücke natürlich durchaus auch ausreichend sein. Dann wird Ihnen dieses Buch auch ohne nachfolgende Psychotherapie gute Dienste leisten. Aber wenn Sie sich so verletzt haben, dass Sie eine Krücke brauchen, dann sollten Sie sich auf jeden Fall auch sicherheitshalber bei einem Arzt vorstellen, selbst wenn es erst einmal „nur“ der Hausarzt ist (glauben Sie mir, der wird wissen, was zu tun ist!).
Im Klartext: Wenn Sie glauben, dass bei Ihnen eine Depression vorliegen könnte, dann sollten Sie dies mindestens bei Ihrem Hausarzt ansprechen, denn jeder Hausarzt ist darin geschult, eine Depression zu erkennen und weitere Schritte in die Wege zu leiten. Und beim Warten darauf ist es dann auch gerechtfertigt, schon einmal selbst etwas zu tun.
Dieses Buch soll Ihnen helfen, nach Art eines Feuerlöschers den beginnenden Brand zu bekämpfen, bevor er sich ausbreiten kann. Im Zweifel rufen Sie ja aber auch bei einem Hausbrand immer die Feuerwehr und hantieren mit dem Feuerlöscher allenfalls dann, wenn Sie die Feuerwehr bereits gerufen haben.
Was jedoch zu tun ist, wenn sich das Feuer bereits so ausgebreitet hat, dass man ohne weitere Löschversuche sofort das Haus verlassen muss, dazu kommen wir noch.
Dieses Buch ersetzt also auf keinen Fall eine professionelle individuelle Begleitung oder überhaupt erst eine Diagnose.
Es kann Sie unterstützen, aber das Mindeste, was ich von Ihnen verlangen muss, ist eine Vorstellung beim Hausarzt. Wenn Sie eine Krücke brauchen, und es nicht innerhalb kürzester Zeit besser wird, MUSS eben einfach auch ein Arzt vor Ort einen Blick darauf werfen.
Wenn Sie einen Feuerlöscher brauchen und das Feuer damit nicht SOFORT löschen können, MUSS ja schließlich auch die Feuerwehr alarmiert werden. Und Sie können allenfalls in der Wartezeit noch ganz kurz (aber mit äußerster Vorsicht und Fluchtbereitschaft!) versuchen, einen Feuerlöscher einzusetzen.
Schluss jetzt aber mit den blumigen Metaphern, nennen wir das Kind beim Namen und klären wir einige sachliche Fakten.
Eine schwere Depression kommt nicht über Nacht. Man „rutscht da hinein“, immer ein kleines Stückchen tiefer. Es beginnt mit typischen Vorzeichen, die von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein können, die aber üblicherweise für einen bestimmten Menschen immer gleich ablaufen. Das ist Ihr Vorteil, wenn Sie schon einmal eine Depression durchgemacht haben: Sie wissen dann, wie sich diese Vorzeichen für Sie anfühlen, und können direkt reagieren.
Denn es ist oft möglich, diesen Prozess rechtzeitig zu stoppen, insbesondere, wenn Sie schon Erfahrungen mit Ihrer Depression haben. Denn idealerweise haben Sie beim letzten Mal in einer Psychotherapie bereits erarbeitet, welches Ihre problematischen Muster sind, und wie Sie diese stoppen und/oder welche Gegenmaßnahmen Sie anwenden können.
Manchmal ist es aber auch nicht möglich, diesen Prozess rechtzeitig zu stoppen, und Sie rutschen immer tiefer, bis Sie nur noch im Bett liegen können, mit der Decke über dem Kopf und dem Gefühl, es nicht mehr aushalten zu können. Sie wollen nur noch, dass das AUFHÖRT, vollkommen egal, wie. In diesem Stadium können Sie womöglich keinen klaren Gedanken mehr fassen und sind handlungsunfähig, sodass Sie keinen Ausweg mehr sehen. Aber einen Ausweg gibt es immer, und dafür brauchen Sie sich auch keine komplizierte Telefonnummer zu merken: Wählen Sie dann einfach die 112.
Was geschieht, wenn Sie die 112 wählen, und wann sollten Sie das tun?
Zunächst einmal möchte ich mit einem großen Vorurteil aufräumen: Entgegen aller Befürchtungen reißt Ihnen niemand den Kopf ab, wenn Sie die 112 wählen. Versprochen. Ich habe mehr als 10 Jahre lang als Notärztin gearbeitet, und ich kann Ihnen versichern, in der Leitstelle sitzen sehr erfahrene und nette Disponenten, vor denen Sie wirklich keine Angst zu haben brauchen.
Na klar, natürlich sollen Sie nicht die 112 wählen, wenn Sie seit vier Wochen Rückenschmerzen haben und es einfach noch nicht zum Hausarzt geschafft haben. Auch dann nicht, wenn es „heute aber wirklich wieder mal weh tut und der Hausarzt jetzt schon zu hat“. Das ist einfach kein Notfall.
Was aber sehr wohl ein Notfall ist, und zwar egal um welche Uhrzeit, das ist eine schwere Depression mit suizidalen Gedanken, sodass Sie Angst vor sich selbst bekommen und sich selbst nicht mehr über den Weg trauen. Wenn Sie dann die 112 anrufen und einfach sagen, dass Sie lebensmüde Gedanken haben und in eine Klinik wollen, dann können Sie sich darauf verlassen, dass 10-15 Minuten später ein Rettungswagen bei Ihnen klingelt und Sie in die für Ihr Einzugsgebiet zuständige Klinik bringt. Sie brauchen sich um nichts weiter zu kümmern. Und Sie brauchen auch keine Klinikeinweisung, denn diese ist bei einem Notfall nicht nötig. Und eine schwere Depression mit lebensmüden Gedanken IST ein Notfall. Selbst wenn es gerade zwei Uhr mitten in der Nacht ist.
Und was machen Sie, wenn Sie keine suizidalen Gedanken haben, sich aber so schlecht fühlen, dass Sie trotzdem das Gefühl haben, dass Sie das alles einfach nicht mehr aushalten? Wenn Sie darum in eine Akutklinik möchten, weil Sie einfach mal aus der ganzen Misere entkommen wollen und darum sofort und ohne lange Wartezeit professionelle stationäre Hilfe wünschen? Dann wenden Sie sich bitte an Ihren Hausarzt, der ist ohnehin die erste Anlaufstelle auch bei psychischen Problemen, und Ihr Hausarzt kann Ihnen eine Einweisung für eine Akutklinik schreiben. Hierfür beträgt die Wartezeit üblicherweise 2-3 Wochen, ist also wirklich überschaubar.
Ist es nicht so akut, sondern schleppen Sie sich eher chronisch schon seit längerer Zeit mit depressiven Gedanken herum und finden keinen Ausweg aus beruflichen und/oder privaten Dauerbelastungen? Dann könnten Sie auch einen längeren Aufenthalt in einer psychosomatischen Rehaklinik in Erwägung ziehen. Hierfür sollten Sie allerdings bereits eine ambulante Psychotherapie begonnen haben, die sich in dem Fall dann eben als nicht ausreichend herausstellt. Mit Ihrer Therapeutin oder Ihrem Therapeuten können Sie dann die Möglichkeit eines längeren, 4-12 wöchigen Aufenthaltes in einer Rehaklinik besprechen. Da es ja aber gar nicht so leicht ist, überhaupt einen Therapieplatz zu bekommen, kann Ihnen notfalls auch da Ihr Hausarzt weiterhelfen. Denn Ihr Leben ist wertvoll.
Wichtig ist jedoch vor allem, dass Sie aus diesem Kapitel folgende Punkte mitnehmen: Wenn alles über Ihnen zusammenbricht, wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie es nicht mehr aushalten können, wenn Sie zunehmend sogar suizidale Gedanken bekommen und wenn diese plötzlich so drängend werden, dass Sie keinen Ausweg mehr sehen — dann wählen Sie bitte die 112. Denn das ist ein Notfall, und dafür ist diese Notfallnummer da. Bitte nicht denken: „Ach, ich muss mich eben noch mehr zusammenreißen, wird schon irgendwie gehen, ich kann das sicher noch aushalten, irgendwie“. Wenn Sie das aber immer mehr Kraft kostet und Ihnen immer weniger gelingt, bitte wählen Sie dann die 112 und sagen Sie, dass Sie Hilfe brauchen. 10-15 Minuten später sind Sie dann in einem Rettungswagen auf dem Weg in die für Sie zuständige Akutklinik, und Sie brauchen sich über nichts mehr Gedanken zu machen. Denn dort bekommen Sie professionelle Hilfe, und zwar sofort und ohne Wartezeit.
Und was geschieht in einer Akutklinik? Sind Sie nicht geplant mit Einweisung, sondern als Notfall gekommen, werden Sie vorab einige Tage unter ständiger Beobachtung auf einer geschützten Station verbringen, auf der Sie absolut sicher sind: vor sich selbst, vor Ihren Gedanken und vor möglichen Kurzschlusshandlungen. Sie werden merken, wie Sie allmählich zur Ruhe kommen und ein wenig entspannter werden. Nach wenigen Tagen werden Sie sich so weit stabilisiert haben, dass Sie auf die Depressionsstation verlegt werden. Dort bleiben Sie so lange, bis es Ihnen wirklich besser geht. Sie lernen andere Patienten kennen, denen es ähnlich geht wie Ihnen, schließen Freundschaften mit Menschen, die Sie wirklich verstehen, führen viele therapeutische Gespräche. Und Sie erhalten erste, tiefe Einblicke über pathologische, sich immer wiederholende Muster in Ihrem Leben, und wie Sie diese auflösen können.
Nicht zuletzt entdecken Sie aber, dass Sie keinesfalls alleine sind. Menschen mit depressiver Veranlagung sind sich in vielen Dingen erstaunlich ähnlich: Sie können schlecht nein sagen, halten Konflikte nicht gut aus, sind oft geradezu harmoniesüchtig, stellen ihre eigenen Bedürfnisse stets zurück, bekommen sehr leicht Schuldgefühle oder haben ein geringes Selbstwertgefühl.
Aber zu entdecken, dass es anderen genauso geht, heilt. Und schweißt zusammen. Und verändert alles. Wenn man Menschen fragt, die in einer psychiatrischen oder psychosomatischen Klinik waren, wird der Kontakt zu anderen depressiven Patienten immer wieder als eins der wichtigsten Elemente auf dem Weg der Besserung beschrieben.
Nach einem Klinikaufenthalt geht es üblicherweise direkt weiter mit einer ambulanten Psychotherapie, die das in der Klinik erlernte festigen soll. Eine ambulante Psychotherapie kann in sehr vielen Fällen auch ohne Klinikaufenthalt aus der Depression heraushelfen. Wenn Sie schon einmal eine Depression hatten, werden Sie das sicher wissen. Wenn Sie noch keine Psychotherapie hatten, aber auf einer Warteliste stehen, werden Sie es bald kennenlernen.
Wenn Sie wirklich gerade eine waschechte Depression haben, wird dieses Buch nicht ausreichen. Es baut darauf auf, dass Sie Ihre pathologischen Muster bereits kennen oder demnächst kennenlernen werden und dies in einer Therapie vertiefen können. Es setzt voraus, dass Sie bereits Tools erlernt haben, um sich zu stabilisieren, oder diese Tools bald kennenlernen werden; dass Sie die Anzeichen kennen, wenn aus einer zunächst leichten eine mittelgradige und schließlich eine schwere Depression wird, und dadurch rechtzeitig durch das Aufsuchen professioneller Hilfe gegensteuern können. Und es setzt zwingend voraus, dass ein Psychotherapeut oder zumindest ein Hausarzt „mit draufschaut“.
Sind diese Bedingungen gegeben, kann das Buch eine gute Unterstützung sein. Und wenn die Depression noch ganz am Anfang steht, kann es sie womöglich sogar wie ein Feuerlöscher stoppen und der Feuerwehr dadurch einiges an Arbeit abnehmen.
Halten Sie einen Bleistift bereit, denn ich werde Sie immer mal wieder bitten, etwas direkt ins Buch zu schreiben.
Wenn Sie einen Füller oder einen Kugelschreiber vorziehen geht das natürlich auch in Ordnung, aber ein Bleistift wäre am besten, da die meisten Menschen unbewusst Probleme damit haben, mit einem Füller oder einem Kugelschreiber in ein Buch zu schreiben. Denn die meisten von uns haben das als Kind schon einmal versucht — und Ärger deswegen gekommen. Darum ist ein Bleistift am besten, da es dagegen üblicherweise keinen inneren Widerstand gibt. Und dieses Buch soll Ihnen beibringen, auf Ihren inneren Widerstand zu hören — und ihn nicht länger mit „ach, wird schon gehen“ zu übergehen. Denn genau das hat Sie in diese Bredouille gebracht, und genau deshalb müssen Sie in Zukunft damit aufhören.
Schritt Nr. 1
Der Druck muss raus!
Hören Sie bitte auf damit, zu glauben, Sie müssten sich eben einfach nur „noch mehr zusammenreißen“. Damit fahren Sie sich nur tiefer in der Depression fest.
Sind Sie schon mal in einem Auto gefahren, das in den Notlaufmodus geschaltet hat? Beeindruckend, oder? Egal, wie stark Sie auf das Gaspedal treten, es kommt einfach keine Leistung mehr aus dem Motor. Und genau das ist Absicht! Der Notlaufmodus ist ein Schutz — er hat eine ganz wichtige Aufgabe, denn er schützt Ihr Auto. Sie sollen lediglich noch in die Lage versetzt werden, damit in die nächste Fachwerkstatt zu fahren.
Und genau aus diesem Grund ist eins der häufigstenSymptome einer Depression der verminderte Antrieb. Dinge, die Ihnen normalerweise leicht von der Hand gehen, machen Ihnen plötzlich Probleme und sind nun eine riesige Kraftanstrengung.
Wenn Sie noch tiefer in die Depression rutschen, kann es sogar passieren, dass Sie bei vielen Dingen völlig handlungsunfähig werden. Der Alltag liegt wie ein Berg vor Ihnen, Sie fühlen sich überwältigt von Ihren Tagesaufgaben, gelähmt von Ihren Verpflichtungen. Am liebsten möchten Sie sich in Ihr Bett zurückziehen und die Decke über den Kopf ziehen.
Dieser Notlaufmodus ist von Ihrer Psyche beabsichtigt. Und die Wahrscheinlichkeit ist extrem groß, dass Sie schon seit längerem oberhalb Ihrer Belastungsgrenze gelebt und gearbeitet haben. Nicht etwa, weil Sie zu wenig Selbstdisziplin haben. Sondern ZUVIEL.
„Reiss dich zusammen, andere Menschen schaffen das doch auch!“ ist Ihr Leitsatz — einer, den Sie womöglich schon seit Ihrer Kindheit gehört haben, und der Ihnen auch von den Menschen um Sie herum immer wieder signalisiert wird.
„Ach, geht schon irgendwie!“ ist Ihr zweiter Leitsatz. Und so schweigen Sie und machen gute Miene zum bösen Spiel. Sie verbergen Ihre Überforderung nach außen und drangsalieren sich mit Durchhalteparolen nach innen. Und dann wundern Sie sich, wenn Sie sich plötzlich im Notlaufmodus befinden und nun einfach nicht mehr KÖNNEN, egal, wie sehr Sie sich zu zwingen versuchen. Also hören Sie bitte auf damit, sich zu überfordern — jetzt werden die Verpflichtungen erst einmal heruntergefahren!
Ich komme jetzt schon wieder mit meiner „Beinbruch-Metapher“ an. Stellen Sie sich also vor, Sie hätten sich einen komplizierten Beinbruch zugezogen. Da wäre es sogar für Sie und Ihr Umfeld völlig klar, dass Sie sich für die nächsten Monate deutlich zurücknehmen müssen, um die Heilung nicht zu gefährden. Da gäbe es überhaupt nichts zu diskutieren, es wäre für alle offensichtlich. Sie müssten sich schonen, müssten viele Ihrer Verpflichtungen absagen, vieles würde erst einmal liegenbleiben. Inklusive Sie selbst.
Warum ist dies bei einem Beinbruch absolut logisch und offensichtlich — aber bei einer Depression denken Sie und Ihr Umfeld, Sie müssten sich eben einfach nur mehr zusammenreißen? Würde man das zu jemandem sagen, der sich gerade das Bein gebrochen hat? Nein!Aber worin besteht bezüglich Leistungsfähigkeit der Unterschied zwischen Beinbruch und Depression? Es gibt keinen!
Wenn Sie sich mit gebrochenem Bein „zusammenreißen“ und mit Ihren Verpflichtungen weitermachen, als ob nichts passiert wäre, werden Sie die Heilung nur verzögern, vielleicht sogar verhindern, und Ihr Bein wird dauerhaften Schaden nehmen. Zum Glück sorgen die heftigen Schmerzen dafür, dass Sie vernünftig bleiben und sich schonen.
Wenn Sie sich mit einer Depression „zusammenreißen“ und weitermachen wie bisher, werden Sie die Heilung nicht nur verzögern, sondern Ihre psychische Gesundheit kann dauerhaften Schaden nehmen. Zum Glück sorgen die starken psychischen Schmerzen und eine bleierne Antriebslosigkeit und Erschöpfung dafür, dass Sie vernünftig bleiben.
Ok, also Verpflichtungen herunterfahren. Aber wie?
Indem Sie sich jetzt bitte zunächst einmal Ihre ganzen Verpflichtungen aufschreiben (am Ende des Kapitels finden Sie einige hierfür vorgesehene Seiten mit genügend Platz). Wir wollen uns erst einmal anschauen, wie viel Sie in Ihren Rucksack gepackt haben — und erschrecken Sie bitte nicht, wenn Sie beim Aufschreiben merken, wie viel das ist. Wir werden da in einem zweiten Schritt ein bisschen Ordnung hineinbringen. Jetzt geht es uns erst mal darum, den Istzustand aufzuschreiben.
Stellen Sie sich (wieder mal) vor, Sie hätten sich das Bein gebrochen. Und zwar auch noch ein sehr komplizierter Bruch. Und Sie müssten sich jetzt damit abfinden, die nächsten Wochen im Krankenhaus liegend zu verbringen. Da wäre dieser Blick auf Ihre Verpflichtungen jetzt auch notwendig. Was können Sie in den nächsten Wochen tun, was können Sie delegieren, was müsste erst einmal liegenbleiben? Um das zu entscheiden, gilt es zunächst einmal, eine Liste zu machen: Was liegt überhaupt alles an?
Zählen Sie dafür alle Verpflichtungen auf, die Sie sich selbst in den letzten Monaten gestellt haben, und auch die Erwartungen der anderen, die Sie zu Ihren Verpflichtungen gemacht haben, und die Sie einfach irgendwie „im Nacken spüren“.
Womöglich sind das sogar Dinge, die Sie eigentlich auch wirklich gerne machen, nur wissen Sie nicht, wie Sie dies noch in Ihrer übervollen To-do-Liste unterbringen können — zum Beispiel, öfter mit Ihren Kindern zu spielen, oder Ihre Eltern regelmäßiger zu besuchen.
Es können auch Kleinigkeiten sein, die Sie nur wenige Minuten kosten, wie ein Anruf bei Ihrer Großmutter; es können Dinge sein, die Sie schon länger vor sich herschieben, wie Ihre Steuererklärung oder den Kleiderschrank ausräumen. Oder Dinge, die einfach regelmäßig anfallen und auch notwendig sind, wie Gassigehen mit dem Hund oder Geschirrspülen. Es können Dinge sein, die Sie schon lange Zeit machen und auch nicht aufgeben wollen, wie Vereinssport oder ein Ehrenamt.
Sich all Ihre Verpflichtungen einmal aufzuschreiben — das geht tatsächlich am besten in der Depression, denn da ist einfach ALLES ein riesiger Berg, der vor Ihnen liegt, und schon das Duschen morgens kann zur Herausforderung werden. Also: bitte auf den folgenden Seiten alles haarklein und bis ins letzte Detail aufschreiben!
Was ist der Sinn dieser Übung?
In einer beginnenden Depression starrt man wie gelähmt auf Probleme wie das Kaninchen auf die Schlange, und es wächst einem mehr und mehr alles über den Kopf. Das Gefühl von Überforderung macht sich breit, und durch die zunehmende „Problemtrance“ (in der man sich immer mehr auf die Probleme fokussiert) verschwimmen das tatsächliche Ausmaß an Verpflichtungen und Erwartungen Stück für Stück im depressiven Nebel. Da ist nur noch das Gefühl, dass alles ein riesiger Berg ist, der Tag für Tag vor einem liegt. Und dieser Berg macht mutlos und wirkt immer bedrohlicher.
Ihre Gedanken kreisen also momentan ohnehin vor allem um Ihre Verpflichtungen und Aufgaben, und Ihre Antriebslosigkeit (das Kernsymptom einer Depression!) nehmen Sie als Schwäche und Zeichen Ihrer Unfähigkeit wahr — Schuldgefühle machen sich breit und verstärken die Abwärtsspirale noch weiter.
Alle Verpflichtungen einmal aufzuschreiben, konkret und detailliert, liefert zunächst einen guten Ausgangspunkt, um einen objektiven Überblick zu bekommen: Was liegt denn tatsächlich alles an? Zeichnen sich Schwerpunkte ab, die besonders belastend sind? Oder die besonders dringlich sind?
Was man niederschreibt, ist zudem ganz buchstäblich aus dem Kopf, und Sie kommen womöglich etwas zur Ruhe. Außerdem können und werden wir mit dieser Liste dann im nächsten Kapitel weiterarbeiten.
Übung: Verpflichtungen/
Erwartungen an Sie
Beruflich: ……………………………………………………..
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Finanziell: …………………………………………………….
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Partner und Kinder: …………………………………………
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Familie: ……………………………………………………….
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Freunde: ……………………………………………………..
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Haushalt: …………………………………………………….
…………………………………………………………………
…………………………………………………………………
…………………………………………………………………
…………………………………………………………………
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Alltag: ..………………………………………………………
…………………………………………………………………
…………………………………………………………………
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Freizeitverpflichtungen: ……………………………………
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…………………………………………………………………
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Schritt Nr. 2
Die Pflichten runterfahren!
Denken Sie an das Auto im Notlaufmodus: Dass Sie gerade nicht leistungsfähig sind, ist Absicht! Hören Sie auf, „funktionieren“ zu wollen, und konzentrieren Sie sich aufs Gesundwerden.
Wenn Sie tatsächlich den Bleistift gezückt und die Aufgabe des vorherigen Kapitels schriftlich durchgeführt haben, hatten Sie womöglich ein Aha-Erlebnis. Nämlich eine Erkenntnis, die Ihnen zuvor nicht wirklich bewusst war. Denn das geschieht oft, wenn wir die Dinge aufschreiben, anstatt sie nur in unserem Kopf zu jonglieren.
Wahrscheinlich haben Sie nun auch diejenigen Verpflichtungen erkannt, die Ihnen am meisten zu schaffen machen. Die Ihnen richtig schwer auf dem Magen liegen. Und für die es keine Lösung zu geben scheint. Sie sind auf einige Ihrer großen Baustellen gestoßen. Und das ist gut so. Darum werden wir uns später kümmern. Halten Sie Ihre großen Baustellen bitte hier einmal fest. Es sollten zwischen drei und fünf sein, um sich nicht zu verzetteln, und Sie finden Ihre Baustellen meist unter Ihren Verpflichtungen, es können aber auch weitere hinzukommen, die nichts mit Ihrer Liste an Verpflichtungen zu tun haben (vielleicht ein Verlust, über den Sie nicht hinwegkommen). Bitte halten Sie hier jetzt einfach einmal für später Ihre drei bis fünf größten Baustellen fest:
Baustelle 1:
…………………………………………………………………
Baustelle 2:
…………………………………………………………………
Baustelle 3:
…………………………………………………………………
Baustelle 4:
…………………………………………………………………
Baustelle 5:
…………………………………………………………………
Und jetzt wenden wir uns noch einmal Ihrer Liste aus dem vorigen Kapitel zu. Ja, die Liste mit Ihren Verpflichtungen und den Erwartungen, die Sie selbst oder andere an Sie stellen. Denken Sie dabei an die Metapher mit dem gebrochenen Bein: welche dieser Verpflichtungen könnten Sie für die nächsten Wochen aussetzen, delegieren oder aufschieben, während Sie sich mit eingegipstem Bein in einer chirurgischen Klinik aufs Gesundwerden konzentrieren? Finden Sie spontan solche Verpflichtungen? Dann setzen Sie sie auf Ihrer Liste bitte in Klammern.
Und jetzt schauen Sie sich an, welche Ihrer Verpflichtungen in den nächsten drei Wochen regelmäßig erledigt werden MÜSSEN. Und fragen Sie sich kritisch: Stimmt das wirklich? Und vor allem: Wer sagt das?
Wenn Sie vielleicht Ihre Arbeitsstelle als eine Ihrer Großbaustellen identifiziert haben, die Sie ganz besonders viel Kraft und Energie kostet — dann lassen Sie bitte mal den Gedanken sacken, ob Sie sich nicht von Ihrem Hausarzt mal für 2-3 Wochen krankschreiben lassen könnten. Ja, der Verdacht auf eine Depression ist ein völlig legitimer Grund. Und sogar ein häufiger. Und wir müssen momentan wirklich den Druck aus Ihrem Leben rausnehmen.
Ja, ein paar Wochen Krankmeldung ist bei einem Job, den Sie als Großbaustelle identifiziert haben, nicht viel. Aber es ist ein Anfang und gibt Ihnen zumindest einmal Zeit, tief Luft zu holen und ein bisschen zur Ruhe zu kommen. Die dadurch gewonnene Zeit könnten Sie dann für weitere Schritte nutzen, wie zum Beispiel die Suche nach einem Psychotherapieplatz.
Wenn Sie dagegen das Gefühl haben, dass die Arbeit Ihnen im Gegenteil Struktur gibt und guttut, dass aber womöglich Ihre Ehe und die ständigen Streitigkeiten zu Hause Ihre Großbaustelle sind — dann macht eine Krankschreibung erst einmal wenig Sinn. Denn dadurch würden Sie ja noch mehr Zeit im belastenden Umfeld zu Hause verbringen. In solchen Fällen wäre es aber eine Überlegung wert, ob nicht 14 Tage Akutklinik Ihnen den nötigen Abstand und die nötige Ruhe geben könnten. Denn dies gäbe Ihnen die Möglichkeit, einmal wirklich komplett aus dem belastenden Umfeld herauszukommen und Ihren Kopf wieder klar zu bekommen. Außerdem fänden Sie dort professionelle Unterstützung auf der ganzen Linie.
Das waren jetzt aber natürlich schon zwei etwas größere Vorschläge, wie Sie erst einmal ganz akut den Druck aus Ihrem Leben herausnehmen könnten. Wenn Sie sich mit solchen ja schon etwas gewichtigeren Aktionen (noch?) nicht richtig anfreunden können, schauen Sie doch einfach nochmal genau Ihre Liste mit den Verpflichtungen durch und überlegen Punkt für Punkt, ob und wie Sie diesen für die nächsten Wochen einklammern und damit entschärfen können.
Vielleicht haben Sie ja eine Vertrauensperson, der Sie dieses und das vorherige Kapitel inklusive Ihrer Liste an Verpflichtungen zeigen können. Ein Außenstehender kann vielleicht auf Ideen kommen, für die Sie in Ihrer momentanen Situation einfach nicht den Kopf frei haben.
In einer Psychotherapie würde man diese Liste jetzt tatsächlich Punkt für Punkt mit Ihnen durchgehen und den einen oder anderen Impuls setzen, der womöglich zum entscheidenden Aha-Effekt verhelfen kann.
Ich will Ihnen als Beispiel einmal eine Geschichte erzählen, die seit Jahren im Internet kursiert, und die vermutlich auch genau so passiert ist — denn solche Szenen sind typisch in der Psychotherapie.
Eine Frau mit einer Depression erzählt in dieser Geschichte, wie sie bei ihrer Therapeutin saß und von ihrer Antriebslosigkeit berichtete. Alles sei eine große Last, sie könne noch nicht einmal die kleinsten Alltagsaufgaben bewältigen.
Die Therapeutin fragte nach: „Können Sie mir denn ein Beispiel nennen? Was für eine übergroße Alltagsaufgabe wartet auf Sie, wenn Sie nach Hause kommen? Wie kann ich mir das vorstellen?“
Die Frau wurde rot, denn sie schämte sich für ihre scheinbare Schwäche. Es kam ihr so albern vor, sie fühlte sich so unfähig und lebensuntüchtig, aber schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und erzählte:
„Also, ein Beispiel ist das ganze dreckige Geschirr in der Spüle. Das liegt da schon seit Wochen, und ich kann mich einfach nicht überwinden, es zu spülen. Ich habe sogar eine Spülmaschine, aber die spült nicht sonderlich gut, und es ist alles eingetrocknet und verkrustet. Ich müsste darum alles mit Hand einweichen und gründlich vorspülen, aber ich schaffe das einfach nicht, und ich schäme mich so dafür. Ich wünschte, ich würde es mit dem Geschirrspüler sauber bekommen, aber das geht eben nicht.“
Die Therapeutin sah die Frau ruhig an und sagte: „Dann spülen Sie es in der Spülmaschine eben zweimal durch.“ Die Frau schaute entsetzt: „Aber das geht doch nicht! Wer macht denn sowas! Das kann man doch nicht machen!?“
Die Therapeutin lachte und sagte: „Wer sagt das? Wo steht das denn geschrieben? Spülen Sie das Geschirr in der Spülmaschine einfach zweimal, oder dreimal, oder viermal, solange bis es sauber ist! ES GIBT KEINE REGEL — nur in Ihrem Kopf!“
Die Frau ging nachdenklich nach Hause und ließ die nächsten Stunden die Spülmaschine laufen, bis das ganze Geschirr sauber war. Dann duschte sie sich zum ersten Mal in dieser Woche — auf dem Boden der Dusche sitzend. Denn im Stehen zu duschen, war die ganze Zeit eine viel zu große Kraftanstrengung gewesen.
„Es gibt keine Regel. Nur in meinem Kopf,“ sagte sie sich dabei langsam. Und das war der Wendepunkt in ihrer Depression.
Einige Wochen später konnte sie das Geschirr wieder ganz normal mit der Hand vorspülen, bevor sie es in die Spülmaschine stellte. Sie konnte es anschließend wieder in die Schränke stellen, und sie konnte auch wieder regelmäßig duschen, und zwar im Stehen.
Wir stehen uns mit unseren unerbittlichen Anforderungen uns selbst gegenüber in schwierigen Zeiten selbst im Weg und verschlimmern unsere Situation dadurch noch. Es ist ja gut und richtig, diese Anforderungen in normalen Zeiten auch erfüllen zu wollen. Aber es gibt Zeiten — und eine Depression gehört definitiv dazu — da müssen diese Anforderungen heruntergeschraubt werden, bis wieder genügend Kraft und Energie dafür da ist. Mit einem gebrochenen Bein müssten Sie ja auch kürzertreten. Mit einer Lungenentzündung ebenfalls. Und da würden Sie das auch sofort einsehen, und Ihr Umfeld auch.
Bitte machen Sie sich aber klar: Eine Depression ist ebenfalls eine Krankheit, und wenn Sie sich nicht schonen, bis Sie wieder Ihre Kraft und Energie zurückhaben, schaden Sie Ihrer Gesundheit und richten viel Schaden an!
Und nun gehen Sie bitte noch einmal zurück ins vorherige Kapitel, zu Ihrer Liste mit Verpflichtungen, und setzen die Punkte in Klammern, die Sie in den nächsten drei Wochen abgeben, abspecken oder aufschieben können.
Was ist der Sinn dieser Übung?
Sie soll Ihnen zeigen, dass während einer beginnenden Depression andere Maßstäbe gelten, als Sie sonst gerne an sich anlegen. Mit gebrochenem Bein MUSS man sich nun mal schonen, es hilft doch alles nichts! Die täglichen Laufrunden fürs Marathontraining sind eben erst einmal zwangsläufig gestrichen. Die können Sie nach Ihrer Genesung wieder aufnehmen, jetzt würden Sie damit die Heilung verhindern — dieses Kapitel sollte Ihnen dies klarmachen. Und das Durchgehen Ihrer Verpflichtungsliste (idealerweise zusammen mit einem Menschen, dem Sie sich anvertrauen können) soll Sie ganz konkret entlasten — durch das Einklammern aller Punkte, die Sie für einige Wochen delegieren, abspecken oder aussetzen können.
Das wird Ihre Depression womöglich zwar erstmal nicht bessern. Aber es könnte verhindern, dass sie sich verschlechtert.
Ja, natürlich ist es gut und wichtig, den Tag zu strukturieren, gerade auch während einer Depression. Sie sollten durchaus einen roten Zeitfaden haben, an dem Sie sich jeden Tag entlanghangeln können. Aber den Tag mit Verpflichtungen zu strukturieren, die Sie momentan einfach überfordern, ist kein Teil der Lösung.
Schritt Nr. 3
Die Stimmungsskala
Lassen Sie uns mal drei Wochen lang schwarz auf weiß festhalten, wie viele gute und wie viele schlechte Tage Sie momentan haben, und lassen Sie uns schauen, ob wir einen Trend erkennen können.
Kein Wissenschaftler käme auf die Idee, sich auf sein Gedächtnis zu verlassen, wenn es um Zahlen und Daten geht, die er erhebt. Und noch viel weniger würde er sich auf sein Gefühl verlassen. Geschweige denn, auf sein Gedächtnis. Denn das ist kein guter, neutraler Zeuge, sondern abhängig von Tagesform und Stimmung.
Und das gilt erst recht in einer Depression. Denn die hat grundsätzlich gute und schlechte Tage. Und an schlechten Tagen haben Sie das Gefühl, es wäre Ihnen noch nie wirklich gut gegangen, und als würde es Ihnen auch nie wieder gut gehen. Alles ist hoffnungslos, alles ist sinnlos. Sie versuchen sich, an gute Zeiten zu erinnern, und rückblickend scheint es Ihnen so, als hätten Sie sich damals nur etwas vorgemacht. „Das waren gar keine guten Zeiten“, sagt Ihr von der schlechten Stimmung korrumpiertes Gedächtnis. „Da habe ich mir nur etwas vorgemacht. Das Leben war damals schon genauso sinnlos wie jetzt. Das Leben ist ein Jammertal, und da werde ich auch nie wieder herauskommen!“
Einen Tag später haben Sie womöglich wieder einen guten Tag. Und nun sagt Ihnen Ihr Gedächtnis etwas ganz anderes — wendet dies aber trotzdem gegen Sie: „Depression, so ein Quatsch. Du stellst dich einfach nur an, du Memme. Dir geht es doch gut. Du redest dir diesen Unsinn einfach nur ein! Du musst dich einfach nur mehr zusammenreißen und mit dem Gejammer aufhören. Ich will nichts mehr von dem dummen Geschwätz von wegen Depression hören!“
Durch diese inneren negativen Dialoge sind sogar gute Tage keine guten Tage, und Sie wissen bald nicht mehr, was Sie denn nun glauben sollen: Haben Sie nun eine Depression, oder stellen Sie sich nur an? Wird es allmählich besser oder eher schlechter? Sie wissen nur eins: Ihr Selbstwertgefühl wird immer schlechter, und die Hoffnungslosigkeit wird zu Ihrem ständigen Begleiter.
Daten und Fakten statt Fake News
Aus genau diesem Grund kann nur ein Stimmungskalender mehr Objektivität in dieses emotionale Durcheinander bringen. Darum arbeiten sehr viele Kliniken und sehr viele Therapeuten mit Stimmungsskalen — um einen Trend erkennen zu können, um nach Zusammenhängen zu suchen und natürlich auch als Erfolgskontrolle einer Therapie.
Ein Stimmungskalender ist aber generell ein so wirkungsvolles Instrument und ist auch außerhalb einer depressiven Phase so sinnvoll und nützlich, dass es heutzutage unzählige Apps dafür gibt. Sie können sich davon irgendeine aussuchen, oder Sie nutzen erst einmal den Stimmungskalender auf den folgenden Seiten.
Bei der Skalierung gibt es mehrere Möglichkeiten. Gängig ist beispielsweise eine Skala von 1-10; allerdings finde ich persönlich eine Skala sinnvoller (und verwende diese auch in meinen Psychotherapien), die einen neutralen Nullpunkt festlegt und von dort aus 5 Stufen nach oben bzw. 5 Stufen nach unten geht — für eine positive Stimmung bzw. für eine negative Stimmung. Ich finde dies einfach anschaulicher, da man ja eben guter und schlechter Stimmung sein kann, also sollte auch die Stimmungsskala von einem neutralen Nullpunkt ausgehen, und von dort eben Ausschläge nach oben und nach unten zulassen.
Außerdem können Sie damit — wenn Sie die Depression überwunden haben — sehr gut Ihre „Grundstimmung“ herausfinden. Jeder Mensch oszilliert in normalen, depressionsfreien Phasen nämlich um einen bestimmten Wert herum, und pendelt sich dort immer wieder ein. Bei manchen Menschen ist es der Neutral-Nullpunkt, bei anderen +1 oder -1. Wenn Sie Ihre depressive Phase überwunden haben, können Sie herausfinden, welcher Wert es bei Ihnen ist. Diesen Wert kann man auf lange Sicht ein wenig nach oben verschieben, aber dies geschieht dann nur langsam.
Und momentan haben wir ja auch ein ganz anderes Ziel: Wir wollen jetzt erst einmal objektiv herausfinden, wie es Ihnen geht. Wie viele gute und wie viele schlechte Tage Sie haben. Ob es tendenziell eher noch schlimmer wird, oder ob es bereits wieder ganz leicht aufwärtsgeht. Und wir wollen auch herausfinden, ob Ihre Stimmung auch innerhalb eines Tages in größerem Ausmaß schwankt. Ob es vielleicht morgens besonders schlimm ist, und dann im Laufe des Tages besser wird. Oder ob Sie nachts mit Grübelspiralen wach liegen, und es Ihnen dann auch besonders schlecht geht.
Hierfür tragen Sie bitte auf den folgenden Seiten ein, wo sich Ihre Stimmung am jeweiligen Tag überwiegend befand. Und wenn es Ausreißer gab, also wenn es Ihnen am entsprechenden Tag kurzzeitig mal besonders gut oder besonders schlecht ging, dann tragen Sie das bitte ebenfalls ein.
Zusammenhänge erkennen
Aber das ist noch nicht alles, was der Stimmungskalender uns an Informationen liefern kann. Besonders interessant ist es natürlich, Zusammenhänge zu erkennen — zwischen einzelnen Geschehnissen und Ihrer Stimmung. Solchen Zusammenhängen versucht man natürlich vor allem in einer Psychotherapie auf die Schliche zu kommen. Aber mit Hilfe des Stimmungskalenders können Sie dies womöglich auch schon einmal für sich alleine herausfinden.
Wenn Sie zum Beispiel feststellen, dass es Ihnen immer dann etwas besser geht, wenn Sie ein paar Stunden zuvor einen längeren Spaziergang gemacht haben — dann haben Sie eine sehr wertvolle Information gewonnen. Ebenso, wenn Sie feststellen, dass es Ihnen jedes Mal dann besonders schlecht geht, wenn Sie auf der Arbeit wieder eine Besprechung mit Ihrer nervigen Kollegin hatten, und sie Sie wieder mal über den Tisch gezogen hat.
Hierfür tragen Sie in den nächsten drei Wochen bitte täglich auf den nächsten Seiten Ihre Stimmung ein — und schreiben auf der rechten Seite in Stichworten die besonderen Vorkommnisse des entsprechenden Tages ein. Bitte kommen Sie in den nächsten drei Wochen immer wieder zu dieser Aufgabe zurück. Unterschätzen Sie nicht die große Aussagekraft und auch nicht die therapeutische Wirkung, die das haben kann.