Ist Ihr Partner „beziehungsunfähig“?


Nähe-Distanz-Problematik

Der Klassiker in jeder Paartherapie und häufiger Grund für Trennungen sind Beziehungen, die unter dem Damoklesschwert der Nähe-Distanz-Problematik stehen. 

A leidet, B mauert.

A “liebt zu sehr”, B “ist zu distanziert”.

A “kämpft um die Beziehung”, B scheint desinteressiert

A wünscht mehr Bindung, B wünscht mehr Freiraum.

A klammert, B flüchtet.

A wünscht Paartherapie, B läßt sich nur unwillig oder gar nicht darauf ein.

Für den Freundeskreis von A ist klar: B ist beziehungsunfähig! A muß sich trennen! B ist der Schuldige! B macht A unglücklich!

Aber tatsächlich gehören zu einer Nähe-Distanz-Problematik immer zwei. Und A ist kein Opfer. A hat die Möglichkeit, das zugrunde liegende Problem anzugehen - mit oder ohne B’s Mitarbeit. Denn ein Paar funktioniert als System: ändert sich nur einer der beiden, wird dies zwangsläufig das System als ganzes ändern. Entwickelt sich A weiter und schafft es, über das Nähe-Distanz-Problem hinauszuwachsen, ändert dies auch für B alles. B muß nun mitziehen und sich ebenfalls weiterentwickeln - oder alleine zurückbleiben.

So funktioniert Beziehung - sie ist grundsätzlich immer eine große Chance für alle Beteiligten, sich gemeinsam immer weiter zu entwickeln. Und doch machen wenige aus Unkenntnis auch nur den Versuch, ihre Beziehungsprobleme auf die eleganteste und wirkungsvollste - und schwierigste - aller Arten zu lösen: ihnen einfach zu entwachsen.


Trennung?

Für A’s Umfeld ist die Sache klar: A muß sich trennen! B tut A nicht gut! A ist emotional abhängig von B! A ist Opfer und braucht Hilfe! B muß sich ändern, wird sich aber niemals ändern, also muß A gehen! Warum sieht A das denn einfach nicht ein?!

A spürt instinktiv: das wäre keine Lösung. Denn wahrscheinlich gab es vor B bereits etliche andere B’s. Und die Beziehungen verliefen alle nach dem gleichen Muster. Immer wieder gerät A an einen B. Nach einer Trennung gäbe es früher oder später einen neuen B. Und der Kreislauf würde von vorn beginnen.

Es gibt somit nur einen Weg: Das Nähe-Distanz-Problem an der Wurzel anzugehen und damit ein für allemal zu lösen. 

Die Chancen, dass die Beziehung dann auf ganz neuer Ebene weitergeführt werden kann stehen gar nicht mal so schlecht. Denn auch B will A nicht verlieren. Auch B “braucht” A. Genau dies, das “brauchen”, ist das Hauptsymptom einer symbiotischen Beziehung.


Symbiotische Beziehung

Symbiose, das klingt doch gut? Die Definition aus dem Biologie-Unterricht ist schließlich uns allen noch im Kopf: Das Zusammenleben zweier Arten zu gegenseitigem Nutzen. Das ist doch genau das worum es in einer Beziehung geht?

Ja und nein. Wie oben erklärt, ist eine Beziehung tatsächlich wie ein Katalysator, der die Beteiligten immer wieder anregt, gemeinsam zu wachsen und sich weiterzuentwickeln. Jeder zieht den anderen mit. Bleibt einer stehen, kommt es zu einem Ungleichgewicht, und somit wird der Zurückbleibende dazu angehalten, sich mitzuentwickeln. Leben ist Wachstum und Vorwärtsbewegung. Stillstand oder gar eine Rückwärtsbewegung ist mit einem gesunden Leben ebensowenig vereinbar wie mit einer gesunden Beziehung.

Dennoch ist in der Tiefenpsychologie eine symbiotische Beziehung nichts Erstrebenswertes, ganz im Gegenteil. Eine symbiotische Beziehung ist eine Beziehung, die auf einer Nähe-Distanz-Problematik beruht. Eine Beziehung, in die sich zwei (oder mehr) Menschen “verstrickt” haben. Eine Beziehung, in der es um ein gegenseitiges Tauziehen geht - jeder will den anderen ändern, jeder “braucht” etwas vom anderen und ist frustriert, weil er es immer weniger bekommt. Aber keiner kann den anderen loslassen, oder gar sein lassen wie er ist. Nein, da ist schließlich noch eine Rechnung offen - man braucht doch noch etwas vom anderen! Wenn er es einem nur endlich geben würde! An dieser Sichtweise hält man immer verbissener fest, denn man “braucht” es schließlich, und nur der andere kann es einem geben! Und nichts bindet mehr - im negativen Sinn - als das Gefühl, etwas noch nicht bekommen zu haben, auf das man Anspruch zu haben glaubt… und von dem man glaubt, dass nur der andere es einem geben kann.

Dies scheint vor allem für A zu gelten - A braucht von B mehr Nähe, mehr Liebe, mehr Verständnis, mehr Bindung, mehr Sicherheit, mehr Harmonie… und löst bei B damit eine Gegenbewegung aus: B braucht nun von A mehr Distanz, mehr Eigenständigkeit, mehr Autonomie, mehr Freiraum… warum trennt sich B aber nicht einfach? Weil beide miteinander verstrickt sind. B sucht sich wahrscheinlich andere Wege, um sich seiner Autonomie zu versichern. Er geht vielleicht eine Affäre ein. Oder er mauert und “macht dicht”. Oder er konzentriert sich ganz auf die Arbeit oder auf ein ihm wichtiges Hobby. So verfahren sich beide immer mehr. Keiner von beiden kann über seinen Schatten springen. Sie können nicht mehr miteinander - aber auch nicht ohne einander. Sie “brauchen” einander, und sie werfen einander vor, dass sie vom anderen nicht bekommen, was sie nun mal “brauchen”.

Es gibt im Leben eines Menschen nur eine wirklich notwendige symbiotische Beziehung, die davon geprägt ist, den anderen tatsächlich im elementaren Sinne “zu brauchen”: Die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern.

Der Säugling kann ohne die Hilfe seiner primären Bezugsperson nicht überleben. Und auch die Liebe des Kindes zu seinen Eltern ist von einem Brauchen geprägt. Hier hat die symbiotische Beziehung ihren berechtigten Platz. Und zwar nur hier. 

Menschen mit Nähe-Distanz-Problematik versuchen diese Art von enger Beziehung auf ihr Erwachsenenleben zu übertragen. Dabei nehmen sie komplementäre Rollen ein: A würde am liebsten mit B verschmelzen, ganz in B aufgehen, fühlt sich alleine unvollständig und sehnt sich nach diesem bedingungslosen Wir-Gefühl, das die meisten A’s in ihrer Kindheit nicht in dem Maße erfahren haben, wie sie es gebraucht hätten. Nun suchen sie dieses Gefühl der Geborgenheit und der Sicherheit in ihrem Partner.

B hingegen hat das Gefühl von Symbiose in seiner Kindheit meist im Übermaß bekommen. Er hat eine ganz andere Erfahrung gemacht: Er durfte nicht eigenständig werden. Er durfte nicht erkunden und entdecken, im sicheren Gefühl, bei seiner Rückkehr stets wohlwollend wieder empfangen zu werden. So sehr wie A sich nach Nähe sehnt, sehnt er sich nach Autonomie… und beide landen in einer symbiotischen Beziehung, wie sie sie aus ihrer Kindheit kennen, weil sie sich nun vom anderen nun genau das erhoffen, was für sie das höchste der Gefühle ist: Nähe - oder Autonomie. Sie möchten die negative Erfahrung aus ihrer Kindheit nun wiederholen - und diesmal mit einem "Happy End". Aber dies gibt es nun leider genauso wenig wie in der Kindheit: A bekommt von B die ersehnte Nähe nicht, und B fühlt sich erstickt und vermißt die erhoffte Autonomie. 

Sehr häufig kamen in der Kindheit auch beide Erfahrungen zu kurz. Und so kommt es, dass Erwachsene mit einer Nähe-Distanz-Problematik sich zwar überwiegend in einer der beiden Rollen wiederfinden - A oder B - dass viele A aber auch schon mal in der Position von B waren und umgekehrt.

Nicht untypisch ist auch das Phänomen der Pseudoautonomie: Das Kind hat die benötigte Nähe nicht in ausreichende Maße bekommen, und irgendwann trotzig beschlossen: ich will von niemandem mehr abhängig sein. Ich sorge nun für mich selbst! Die ganze Sehnsucht nach Nähe und Liebe wird abgespalten, und "niemanden zu brauchen" wird zur Lebensphilosophie. Aber diese Autonomie ist, wie der Name schon sagt, eine Pseudoautonomie - die Sehnsucht nach Nähe Liebe, Geborgenheit ist unterbewußt immer noch da und die Bedürftigkeit ebenfalls. Pseudoautonome Menschen sind meist sehr anfällig für Beziehungen mit Nähe-Distanz-Problematik. Oft finden sie sich in der Position von B, aber sie können genausogut in die Position von A hineinrutschen, was dann im seltsamen Kontrast zur sonstigen selbständigen, unabhängigen Lebensweise dieser Meschen erscheint.


Der Entwicklungsschritt aus dem Problem heraus

Bei einer symbiotischen Beziehung steht die Verschmelzung im Vordergrund. Diese wird von A gewünscht und von B bekämpft, und beide spielen damit das Drama aus ihrer Kindheit nach. Der Ausweg ist ebenso einfach wie schwierig: emotional erwachsen werden!

Eine gesunde Beziehung unter Erwachsenen hat nichts mit Verschmelzung zu tun und auch nichts mit einander brauchen. Wie sagt auch der Dalai Lama: “Bedenke, daß die beste Beziehung die ist, in der jeder Partner den anderen mehr liebt als braucht.”

Und damit sind wir bei einem interessanten Punkt: Liebe! 

Wie definiert ein Erwachsener denn Liebe? Ist es, jemanden zu brauchen, bedürftig zu sein, abhängig zu sein? So liebt ein Kind.

Ist eine bessere Definition für Liebe unter Erwachsenen nicht, dass jeder dem anderen nur das beste wünscht, für ihn da sein möchte, ihn auf seinem Lebensweg begleiten möchte, ihn sein lassen kann wie er ist, ohne ihn ändern zu wollen, ohne ihn verbiegen zu wollen? Dies kann natürlich nur derjenige, der den anderen nicht braucht - sondern eben liebt. Bedingungslos: nicht, ich liebe Dich wenn Du für mich da bist, Dich änderst, Dich so und so verhältst, mir das gibst was ich brauche… sondern ich liebe Dich und möchte dass es Dir gut geht, und wenn ich dazu beitragen kann erfüllt mich das - Punkt! Liebe nicht als Habenwollen, sondern als Gebenwollen. Auf die Spitze getrieben bedeutet bedingungslose Liebe, dass man den anderen auch dann liebt, wenn man nicht zurückgeliebt wird - noch nicht einmal das “braucht” man vom anderen, noch nicht einmal Gegenseitigkeit wird zur Bedingung gemacht! Und trotzdem fühlt man sich glücklich dabei, weil man die Liebe des Partners nicht braucht um eine Leere in sich selbst zu füllen - da ist keine Leere, sondern Fülle, und die Liebe des Partners ist sozusagen nur das Sahnehäubchen, das man dankbar als Geschenk genießt. Er ist aber nicht mehr “die bessere Hälfte”, denn man ist keine Hälfte, man ist bereits komplett. Man ist ganz und kann gerade deshalb lieben. Denn nun ist Liebe erstmals eine Wahl - und keine Notwendigkeit mehr. Sondern eine freie Entscheidung und damit ein ganz besonders wertvolles Geschenk.

Ja, das ist natürlich eine hohe Stufe, die die meisten Menschen lediglich als Ideal anstreben, aber nicht gänzlich umsetzen können - aber solch ein Ideal zu haben, ist doch immerhin schonmal ein guter Anfang. Das Ziel ist nun bekannt, jetzt kann man sich auf den Weg machen… und bereits die Reise ist zwar anstrengend, aber voller wunderschöner Aussichten.

Übrigens, das Spannende dabei: Menschen, die diese Art von Liebe leben, haben eine Ausstrahlung, der sich kaum jemand entziehen kann. Allerdings würden solche Menschen sich nicht (mehr) in eine symbiotische Beziehung verstricken lassen. Sie würden lächelnd ablehnen - sie sind solchen Beziehungen einfach entwachsen.


Die Abgrenzung

Wie bereits besprochen ist eine symbiotische Beziehung auf Verschmelzung angelegt. A möchte ganz im anderen aufgehen - und verliert sich dabei selbst. B bleibt scheinbar abgegrenzt und fühlt sich am Beispiel von A darin bestätigt, warum er so sehr auf Autonomie bedacht ist: wie schrecklich, sich selbst zu verlieren! Fasziniert und erschüttert beobachtet B, wie A leidet und fühlt sich darin bestätigt: nein, so eine emotionale Abhängigkeit muß doch unter allen Umständen vermieden werden! So will B niemals werden! Und B grenzt sich noch schärfer ab - und läßt A sozusagen stellvertretend für ihn die Erfahrung der Verschmelzung machen, die ihn ebenso fasziniert wie Angst macht.

A grenzt sich also zu wenig ab - im Extremfall überhaupt nicht - und B grenzt sich zu massiv ab. Jeder hat das, was dem anderen eigentlich fehlt, im Übermaß. Anstatt den goldenen Mittelweg zu gehen, haben sich beide ins Extrem geflüchtet - und finden am anderen aber genau dieses Extrem der anderen Seite faszinierend. Darum finden A und B auch mit solch traumwandlerischer Sicherheit zueinander. Denn beide haben, was dem jeweils anderen fehlt - und darum “brauchen” sie einander.

So lange das so ist, würde eine Trennung auch nicht viel nützen. A würde einen neuen B suchen und finden. Und umgekehrt. Vielleicht wird A auch als als Variante zu B und findet einen A. Oder umgekehrt. Aber bei diesem Spiel hat jeder seine Lieblingsrolle, die er in der überwiegenden Zahl der Fälle einnimmt. A spielt meistens A und B spielt meistens B. 

Wenn sich beide in ihrer Beziehung zu sehr ins Extrem begeben, kommt es dennoch oft zur Trennung. Diese geht im übrigen seltener von B aus als man annehmen sollte. Denn B ist innerlich so gut abgegrenzt, dass er eine Trennung gar nicht braucht: Trennung ist schließlich nichts anderes als eine Abgrenzung im außen, wo sie im Inneren nicht geschafft wird. 

Meist kommt es dadurch zur Trennung, dass B den Bogen irgendwann überspannt und der Leidensdruck bei A so groß wird, dass dieser keinen anderen Ausweg mehr sieht als das, was er nach innen nicht schafft - die Abgrenzung - durch eine Trennung im Außen zu erzwingen. Oft führt dies dann sogar zu einem Rollenwechsel: B, der mit A ja verstrickt ist und diesen ebenso braucht wie A ihn, wird plötzlich selbst zu einem A und will die Beziehung nun um jeden Preis wiederherstellen. Schafft B dies, fallen beide schnell in ihre alten Rollen zurück und es kann sich eine On-Off-Beziehung ausbilden: beide können nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander.

Bleibt es bei der Trennung, werden beide bald neue Mitspieler finden, um das alte Spiel in neuer Besetzung fortzuführen.


Die Lösung

Das Lösen aus einer solchen Nähe-Distanz-Problematik liegt somit meist in der Verantwortung von A. A ist eben kein Opfer, sondern im Gegenteil, er kann die Schlüsselfigur für eine positive Veränderung aller Beteiligten sein. Der Leidensdruck ist bei A schließlich am größten, und auch die Möglichkeit zur Veränderung ist bei ihm am ausgeprägtesten. Die Veränderung seiner selbst, wohlgemerkt - denn der Weg heraus aus dem Beziehungsdilemma führt nur über einen Wandel von A zu - nennen wir es A+.

Der Weg von A hin zu A+ ist steinig und lang, aber A+ “braucht” B nicht mehr und wird paradoxerweise gerade dadurch für B wieder hochattraktiv. A+ ist an B nun aber nicht mehr interessiert - für ihn käme in Zukunft nur noch ein A+ oder ein B+ als Partner in Frage - beide sind identisch. 

Dies wiederum kann in B den starken Anreiz erwecken, den Weg hin von B zu B+ zu machen - und beide landen auf einer neuen Ebene. A+ sind beide Varianten recht: er geht seinen weiteren Weg ebenso gerne mit B+ wie auch alleine. Nur ein “einfacher” B paßt nun nicht mehr zu ihm - in dem Fall würden sich die Wege des ehemaligen Paars trennen, was A+ nun aber weitaus weniger belasten wird als B. A+ wird künftig seinen Weg gehen - entweder mit oder ohne Partner, aber auf jeden Fall glücklich.

Kompliziert? Nein, eigentlich ganz einfach. Schwierig ist nur der Weg heraus aus dem Dilemma, solange A und B so sehr umeinander kreisen, dass insbesondere A den Ausweg nach “oben” nicht erkennt. Schwierig ist für A auch, sich aus dem Sog des “Spiels” zu lösen und die Konsequenz aufzubringen, sich Schritt für Schritt sein Leben zurückzuholen, sich in die Autonomie zu begeben anstatt die Autonomie stellvertretend durch B leben zu lassen, sich gesund abzugrenzen und sich weiterzuentwickeln. 

Dieser Weg hin zu echter Beziehungsautonomie und echter, bedingungsloser Liebe, die nicht mehr bedürftig ist und Auflösung der eigenen Individualität durch Verschmelzung sucht, sondern das Leben des anderen als Individuum begleiten und bereichern will, ist je nach Ausprägung selbstverständlich auch alleine möglich - oder aber mit einem Coach oder Therapeuten als ortskundigem “Reiseführer” an der Seite. In manchen Fällen (z.B. wenn sich aufgrund der Situation eine Depression oder psychosomatische Beschwerden zu entwickeln beginnnen) kann sogar eine reguläre Psychotherapie hilfreich und angezeigt sein.